THE WRONG MAN (USA 1956), ein Film, der im Hitchcock-Kanon eher einen der unteren Plätze einnimmt (sehr zu Unrecht wie ich finde), erzählt die „wahre Geschichte” einer falschen Verdächtigung. Manny Balestrero (Henry Fonda), ein Musiker, der von seiner Ähnlichkeit mit dem wirklichen Täter nichts ahnt, wird beschuldigt, einen Raubüberfall begangen zu haben.
Hitchcock nimmt diese Verwechslung zum Anlass, die zersetzende Wirkung des Verdachts zu studieren. Im Interview mit Francois Truffaut sagt er über den Film, er habe „die Ereignisse immer aus der Sicht des Unschuldigen” zeigen wollen. Aber wie so oft muss man auch hier die Worte des Meisters mit Vorsicht geniessen. Zwar ist es wahr, dass er hier stärker als gewohnt subjektiv erzählt, aber der Film hält sich keineswegs immer auf der Seite des Helden. Vielmehr beruht die zutiefst beunruhigende Wirkung gerade darauf, die Perspektive immer wieder in Frage zu stellen und sich vom „verdächtigenden” Blick der Anderen infizieren zu lassen.
Die Auflösung (Kamera: Robert Burks) ist dabei so konventionell wie subtil - und womöglich besteht zwischen diesen Zuschreibungen ein kausaler Zusammenhang. Weil ich gerne besser verstehen würde, wie sich Identifikation mit dem Blick einer Figur konstruieren lässt, habe ich eine Sequenz aus dem Film ausgewählt, in der das Angesehen-werden eine besonders große Rolle spielt. Die Szene liegt in der 12. Minute des Films und hat dramaturgisch eine wichtige Scharnierfunktion. Die äussere Handlung aber ist vergleichsweise banal:
Balestrero betritt ein Versicherungsbüro, um die Police seiner Frau zu beleihen. Eine Versicherungsangestellte glaubt in ihm den Mann zu erkennen, der dieses Büro unlängst überfallen hat. Unter einem Vorwand fragt sie ihre Chefin leise um Rat, die involviert eine weitere Kollegin, die den Verdacht bestätigt. Man beschliesst, Balestrero Auskunft über die Summe zu geben, die er leihen kann - business as usual - allerdings mit der fingierten Einschränkung, seine Frau müsse persönlich erscheinen. Balestrero geht, die Frauen sind erleichtert, aufgeregt, besprechen die Sache, die Chefin gibt den Verdacht an einen Polizisten o.ä. weiter.
Die Szene dauert knapp unter 5 Minuten, in denen Hitchcock 48 mal schneidet und 30 Einstellungen „verbraucht” (in fünf davon springt er mehrmals, in drei weitere jeweils einmal wieder zurück). Die Auflösung selbst ist sehr einfach, sie beginnt objektiv (wobei schon hier ein erster Verdacht gepflanzt wird, weil Balestrero sich unangemessen vorsichtig verhält), bleibt dann weitgehend in einem Schuss-Gegenschuss-Muster, wobei es der Blick der Frau ist, der die Szene führt - obwohl Balestrero ja unser Held ist. Diese minimale perspektivische Verschiebung ist wohl auch Hauptursache für unser Misstrauen gegen ihn. Unser Unbehagen wächst mit dem Unbehagen der Versicherungsangestellten, und das, ich wiederhole mich, obwohl wir um Balestreros Unschuld wissen. Auffällig ist, dass die Frau zunächst immer hinter dem Gitter zu sehen ist, nachdem sie aber bei den Kolleginnen Rat gesucht hat, sieht man nur noch Balestrero hinter Gittern - ein Vorgriff auf das, was noch kommen wird und natürlich kein Zufall. Sehr einfach, sehr wirksam.
Erstaunlich finde ich, dass Hitchcock so eine simple Szene, auch wenn sie natürlich wichtig ist im Kontext des Filmes, so hoch auflöst. Großartig, wie genau er dabei arbeitet. Die ungewöhnlich hohe Schnittfrequenz scheint mir damit zu tun zu haben, dass man als Zuschauer schnell vergisst, wessen Blick wir einnehmen, länger ausgehalten wird aus einer POV-Einstellung sozusagen ein neutrales Bild, das Handlung zeigt, während ein fortwährendes Bestätigen: Blick-Betrachter-Blick-Betrachter unsere Blick-Indentifikation aufrecht erhält, und damit in diesem Fall auch die Spannung, denn die Dramatik der Szene hängt allein an der Aufladung durch die Angst der Frau.
Das, was man „Sprachlichkeit” der Auflösung bei Hitchcock nennen könnte, hat, so scheint mir, viel damit zu tun, dass er sehr einfache, ja konventionelle Einheiten sehr differenziert montiert, er bildet sozusagen lange Sätze mit einem allseits bekannten Basis-Vokabular, wobei die Sprachanalogie natürlich trügerisch ist. Ich persönlich schrecke vor einer so hohen und absichtsvoll-banalen Auflösung zurück, aber wahrscheinlich ist diese Genauigkeit der Führung nicht anders zu erreichen. Auch wenn ich und andere mit den Mitteln der Moderne gerne Befreiung und Mündigkeit des Zuschauers verbinden („sich selbst ein Bild machen”) bin ich doch als Zuschauer bei Hitchcock in gewisser Weise freier, eben weil ich orientiert bin und alles verstehe, während ich im „künstlerischen” Film oft der Originalität des Erzählers ausgeliefert bin.
Natürlich kann eine Serie von Screenshots wie die folgende die Dimensionen Zeit und Bewegung nur ungenügend wiedergeben, aber ich glaube, in mancherlei Hinsicht sieht man eben auch mehr als im Kino / auf dem Fernsehschirm. Und hoffentlich machen die Bilder auch Lust, den Film wiederzusehen...
Sonntag, 7. Juni 2009
1.
12:19 - Balestrero geht in das Versicherungsbüro. Mitschwenk (Erzähler-Perspektive).
Von Anfang an liefert Hitchcock seinen Helden unserem Verdacht aus: der Griff zur Manteltasche lässt an eine Waffe denken, der Blick durch das Fenster an einen kriminellen Plan.
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2.
12:29 - Balestrero betritt das Büro mit abgezirkelten Schritten. Mitschwenk. (Erzähler-Perspektive)
Fonda gestaltet diesen Auftritt unnachahmlich seltsam. Gerade die Uneindeutigkeit nährt den Zweifel.
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4.
12:40 - Die Versicherungsangestellte bedient eine Kundin, entdeckt Balestrero. Ransprung in Achse (POV Balestrero).
Auch ihre Reaktion scheint in keinem Verhältnis zum Ereignis zu stehen. Wir fragen uns, wovor sie Angst hat.
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5.
12:47 - Die Kundin gegen Ende der Beratung, Balestrero wartet. Gegenschuss (POV Versicherungsangestellte).
Fonda bleibt neutral, entkräftet unseren Verdacht nicht.
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6.
12:49 - Die Versicherungsangestellte, isoliert. Zweiter Ransprung in Achse (POV Balestrero).
Wir sind uns jetzt sicher, dass etwas nicht in Ordnung ist, nicht zuletzt deshalb, weil der Moment so insistierend erzählt wird. Die Annäherung legt eine Bedeutung nahe, die wir (noch) nicht deuten können. Unsere Neugier verkoppelt sich mit ihrer Angst. Das Gitter wird mehr und mehr zu einem Gefängnis.
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7. (= 5.)
12:50 - Die Kundin hat noch eine Frage. (POV Versicherungsangestellte).
Identisch mit Einstellung 5. Die Harmlosigkeit der Kundin - sie scheint die Anspannung nicht zu bemerken - nährt unseren Verdacht ironischerweise weiter.
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8. (= 6.)
12:52 - Die Versicherungsangestellte isoliert (POV Balestrero).
Identisch mit Einstellung 6. Die Angestellte funktioniert maskenhaft weiter. Sie verhält sich „tapfer”, was unser Mitgefühl erweckt und zugleich die erwartete Offenbarung retardiert. Suspense!
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9. (= 5.)
12:55 - Die Kundin geht, Balestrero ist der Nächste (POV Versicherungsangestellte).
Identisch mit Einstellung 5.
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10. (= 6.)
12:58 - Die Versicherungsangestellte isoliert. (POV Balestrero).
Identisch mit Einstellung 6. Ihre Gesichtszüge sind nicht mehr vollständig unter Kontrolle, sie zeigt ihre Angst jetzt deutlicher.
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11.
12:59 - Die Versicherungsangestellte isoliert, näher. Dritter Ransprung in Achse (POV Balestrero).
Auch wenn die Richtung eindeutig Balestreros POV entspricht, entspringen die Ransprünge nicht seinem Interesse, sondern sind Hervorhebungen des Erzählers. Die Auflösung folgt im Zweifel ihrem POV, ihre Angst „führt” die Szene.
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12.
13:00 - Balestrero greift in den Mantel. Detail und Hochschwenk. (POV Versicherungsangestellte).
Unser Verdacht aus Einstellung 1 wird neu aktiviert. Wir fürchten mit ihr, dass B. eine Waffe zücken wird.
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13. (= 11.)
13:01 - Die Versicherungsangestellte, isoliert, näher. (POV Balestrero).
Identisch mit Einstellung 11. Die Erwartung spitzt sich noch immer zu.
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14. (= 12.)
13:03 - Detail Hand Balestrero (POV Versicherungsangestellte).
Entwarnung: Es ist wirklich eine Police.
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15. (= 11.)
13:04- Die Versicherungsangestellte, isoliert, nah. (POV Balestrero).
Identisch mit Einstellung 11. Sie weiss nicht, was sie von der Sache halten soll. Was will er wirklich?
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16.
13:06 - Die Versicherungsangestellte im Gespräch mit Balestrero (Erzähler-Perpektive).
Eine Art „Unentschieden”. Zum ersten Mal wechseln wir die Seite, sind jetzt innerhalb des Tresens.
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17.
13:08 - Overshoulder Balestrero, auf Versicherungsangestellte. (Erzähler-Perspektive)
Bedeutet Overshoulder tatsächlich die Perspektive des Erzählers? Vielleicht könnte man von einer abgeschwächten Distanzierung sprechen. Als würde der Held (der „Besitzer” der Schulter) nun „man” statt „ich” sagen.
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18.
13:12 - Gegenschuss: Overshoulder Versicherungsangestellte auf Balestrero.
Der (vermutlich natürliche) Größenunterschied arbeitet gegen Balestrero: wir sehen ihn tendenziell untersichtig (= bedrohlich), sie tendenziell aufsichtig (= bedroht).
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21.
13:22 - Die Versicherungsangestellte wendet sich mit einem Vorwand ab und geht zu ihren Kolleginnen. Schwenk / Parallelfahrt (Erzähler-Perspektive)
Innerhalb dieser Szene die technisch anspruchsvollste Einstellung. Ein sehr gekonntes Ineinander von Schwenk und Fahrt. Auch hier ist die Emotion ganz bei der Frau, von einer wirklich neutralen Perspektive auf das Geschehen kann nicht die Rede sein. Ergreifend, wie sie, kaum hat sie Balestrero das Gesicht abgewendet, die Maske fallen lässt.
Die Fahrt wird auf dem Rückweg mehr oder weniger identisch wiederholt.
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22.
13:36 - Die Vorgesetzte schaut auf Balestrero, über die Schulter der Kollegin vom Schalter. (POV Balestrero)
Eine fantastische Einstellung, in der die Feindlichkeit des Angesehen-Werdens geradezu körperlich wird. Der Schutz der Schulter verstärkt dieses Gefühl. Auch hier handelt es sich nicht wirklich um eine POV Balestreros, dazu ist die Einstellungen zu nah, zu sehr von der Aktion der Frau motiviert. Ausserdem enthüllt die nächste Einstellung, dass Balestrero den Blick gar nicht bemerkt, also auch nicht das gedachte Auge hinter dieser Einstellung sein kann.
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23.
13:53 - Balestrero wartet im Hintergrund. (POV Vorgesetzte).
Der Gegenschuss zu 22. Die „Deckung” macht den Blick so gefährlich.
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24.
13:57 - Balestrero wartet, isoliert. Ransprung in Achse. (POV Vorgesetzte).
Man spricht über ihn... Eindeutiger als zuvor: Ein Mann hinter Gittern.
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25.
13:58 - Die Vorgesetzte geht mit der Versicherungsangestellten zum Schreibtisch der älteren Kollegin. (POV Balestrero).
Hier nehmen wir ganz klar seine Perspektive ein. So stellt sich ihm die Szene da. Ein Problem mit der Police seiner Frau? Das Gefühl, Kräften ausgeliefert zu sein, die man nicht durchschaut.
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26.
14:01 - Die ältere Kollegin wird befragt. Frontale Zufahrt, 90 Grad zur Achse. (Erzähler-Perspektive).
Die Tatsache, dass sich die ältere Kollegin zunächst weigert, zu Balestrero zu schauen, macht den traumatischen Charakter des Überfalls deutlich. Toll finde ich das „falsche Spiel”. Über die Police gebeugt spricht man von etwas ganz anderem. Wir sind Komplizen. Er kann nichts davon hören.
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27.
14:07 - Die beiden überreden die ältere Kollegin, Balestrero anzusehen. Ransprung in Achse. (Erzähler-Perspektive).
Ergreifend, der Widerstand, der innere Kampf um einen Blick. Könnte er mich beschädigen?
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28.
14:45 - Balestrero wartet. Kurze Fahrt in die Deckung (POV Ältere Kollegin).
Die Fahrt - schnell wieder in Deckung - betont noch einmal die Gefahr.
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30.
14:57 - Balestrero wartet. (Erzähler-Perspektive).
Auch wenn diese Einstellung sehr nahe an der zuvor gesehenen POV-Einstellung ist (# 24), gibt es keine direkte Verkoppelung mit einem Blick; die Symmetrie neutralisiert das Bild zusätzlich.
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31. (analog 21.)
15:19 - Die Versicherungsangestellte kehrt zurück mit einem Plan. (Erzähler-Perspektive).
Der Rückhalt der Besprechung ist ihr deutlich anzusehen. Die Angst ist vorerst besiegt.
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32.
15:21 - Balestrero freundlich, isoliert, näher. (POV Versicherungsangestellte).
Er lächelt, was wir Eingeweihten fast naiv finden. Wir sehen ihn bereits hinter Gittern.
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33.
15:32 - Die Versicherungsangestellte gibt Auskunft. (POV Balestrero).
Das Gitter fehlt - kein Wunder, dass sie sich wie befreit fühlt.
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